Überblick zur Sozialwahl, über erfundene Sprachen, Kulturgeschichte des Charismas
Diese Woche in der Grübelkiste: Ein Radio-Feature zu den Hintergründen der Sozialwahl und zum Selbstverwaltungsprinzip der Versicherungen; ein Video-Essay über fiktionale aber auch praktisch orientierte erfundene Sprachen; und ein langer Text über die historischen, begrifflichen Ursprünge, politische Gegenwart und mögliche technologische Zukunft von Charisma.
Erfolgsmodell zur Selbstverwaltung in der Krise | Deutschlandfunk
Um was geht es?
Bis zum 31.5. können in Deutschland 52 Millionen Menschen an der sogenannten Sozialwahl teilnehmen: Hierbei können viele Versicherte (namentlich die der Barmer, der Techniker Krankenkasse, der Kaufmännische Krankenkasse, der hkk (Handelskrankenkasse), der DAK Gesundheit und der Deutschen Rentenversicherung Bund) Kandidierende in die Selbstverwaltung ihre Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung wählen, die jeweils paritätisch mit Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer besetzt sind. Alle sechs Jahre findet diese umfangreiche Wahl statt, und doch existiert erstaunlich wenig öffentliches Interesse am Prozess. Woran liegt das und wie ließe sich die Sozialwahl verbessern? Ein Feature des Deutschlandfunk von Philipp Landauer über die Hintergründe.
Was hängen blieb:
Ich bin ehrlich: Mir war die Sozialwahl bis dato nicht bekannt. Für Unwissende wie mich gibt das Feature einen guten Einblick in die organisatorischen Strukturen der gewählten Selbstverwaltung, die Kompetenzen der Interessenvertreter (beispielsweise in der Bestimmung der Höhe von Versicherungsbeiträgen und des Umfangs der Leistungen) und die Konflikte zwischen politischen Entscheidungen und der (zumindest theoretischen) Autonomie der Selbstverwaltung der Versicherungen. Probleme sieht der Autor abseits dieses Konfliktes vor allem in der Handlungsträgheit der Selbstverwaltung (die häufig in ihren Abstimmungen auf Zweidrittelmehrheiten angewiesen sind) und in der wenig attraktiven und teilweise eingeschränkten demokratischen Form der Sozialwahlen (statt einzelnen Personen oder Parteien werden Listen mit Vertretern gewählt; einigen sich die zur Wahl aufstellenden Interessensvertreter bereits im Vorfeld auf eine gemeinsame Liste, verhindert diese sogenannte „Friedenswahl“ einen tatsächlichen Wahlprozess für die Versicherten).
The Weird History of Invented Languages | Storied
Um was geht es?
Sprachen sind zutiefst kulturell verwurzelte Konstrukte; die diachrone Betrachtung von Wortschatz und Grammatik offenbart dabei häufig einen Einblick in die gelebte Geschichte selbst – den jahrhunderte- und jahrtausendlangen friedvollen sowie konfliktreichen Austausch unterschiedlichster (Sprach-)Gemeinschaften. Während natürliche Sprachen in der Regel als Reaktion auf die „alltäglichen Notwendigkeiten“ der jeweiligen Zeit entstehen, versuchen künstliche Sprachen ein von den Erschaffer:innen selbst definiertes Ziel zu erfüllen. Der Kanal Storied widmet sich in der Videoreihe “Otherworlds” dem Phänomen der erfundenen Sprachen und geht dabei auf interessante, erfolgreiche und gescheiterte Projekte ein.
Was hängen blieb:
Ein kurzweiliges Video, das sich zum einen mit Fantasiesprachen aus populären Werken wie Der Herr der Ringe, Star Trek oder Game of Thrones beschäftigt, und zum anderen Projektsprachen wie Esperanto beleuchtet. Interessant war dabei vor allem der vielen künstlichen Sprachen zugrundeliegende Traum einer unmissverständlichen Universalsprache.
The Secret History And Strange Future Of Charisma | Noema Magazine
Um was geht es?
Mit dem Phänomen der charismatischen Herrschaft hat sich bekanntermaßen der Soziologie Max Weber beschäftigt, einer der zentralen Gründerväter des Fachs. Für ihn stand Charisma nicht allein für ein individuelles Attribut, das eine Person entweder besitzt oder nicht; als soziales Phänomen definiert sich Charisma vor allem durch die Rezeption der Massen, die den charismatischen Herrscher durch ihren Glauben an ihn erst konstruieren. Autor Joe Zadeh beleuchtet im vorliegenden Text mit der Person Stefan George einen kuriosen deutschen Schriftsteller, dessen charismatische “Qualitäten” am Vorabend des Nationalsozialismus Menschen auf beiden Seiten des politischen Spektrums in seinen Bann zogen. Gleichzeitig nutzt Zadeh die Anekdoten rund um George als Ausgangspunkt für eine breitflächige kulturelle Betrachtung von Charisma, vor allem mit Blick auf technologische Entwicklungen wie generative KI.
Was hängen blieb:
Ein faszinierendes Essay, das die Wirkkraft von Charisma als zweischneidiges Schwert beschreibt, das verführerische autoritäre Potentiale besitzt, aber auch zur Beflügelung derjenigen beitragen kann, die sich eben jenen unterdrückenden Tendenzen entgegenstellen. Spannend war für mich auch die historische Herleitung des Charisma-Begriffes und dessen nicht-westliche Verwendungen, die auch für Webers Begriffsvorstellung prägend waren. Ganz im Sinne einer Aufklärung, die wieder in Mythos umschlägt, eröffnet die „Entzauberung der Welt“, wie sie Weber in der säkularisierten Moderne diagnostizierte, neue Möglichkeiten der Verführung, sei es durch die mythische Aufladung von populistischen Politikern oder aufgrund von Influencern, die ihre digitale Macht dafür nutzen, reaktionäre und anti-aufklärerische Weltbilder zu verbreiten und damit scheinbar vorhandene Bedürfnisse für „Ersatzreligionen“ und alternative metaphysische Welterklärungen befriedigen.