Vor einigen Wochen sah ich einen etwas älteren Bericht von Monitor über das Leben und die Sozialisierung von Kindern im Westjordanland, über ihre Stilisierung zu Märtyrer-Figuren, über den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt und über die psychische Belastung einer Lebenswelt, die von erlebter Stagnation und Machtlosigkeit geprägt ist. Die Darstellung dieser jungen Menschen, ihre Schilderungen, dass sich ihnen selbst durch gute Bildungsabschlüsse nur sehr eingeschränkte und wenig hoffnungsmachende Perspektiven auftäten, hinterließ in mir einen bleibenden Eindruck.
Dieser Text soll allerdings kein Versuch sein, die Komplexität der aktuellen politischen Lage in Gaza aufs Anekdotische zu reduzieren – viel mehr sorgte das angesprochene Video bei mir für einen Denkanstoß über das Verhältnis von politisch-subjektiven Freiheiten und der Notwendigkeit einer gestaltbaren Zukunft. Die Möglichkeit einer Zukunft, die Ausflucht bietet aus Redundanz und erlebter Gefangenheit, wird dabei zu einer zentralen Voraussetzung des Menschseins. Erst Kontingenz, also das Wissen darum, dass alles auch anders sein könnte, setzt utopische Energien frei und macht aus der neutralen Zeitkategorie Zukunft einen politischen Begriff, der einen breiten Interpretationsspielraum zulässt.
Pluralismus von Zukunftsbildern
Für einige signalisiert das Nachdenken über Zukunft etwa den Bedarf an Klimaschutz und den ökologischen Erhalt von Leben; für andere die Furcht, Schuldenberge an spätere Generationen zu vererben. Aber auch Ängste, die etwa auf eine suggerierte „Verdrängung“ der eigenen kulturellen Identität oder Nationalität abzielen, rekurrieren auf spezifische antizipierte Szenarien. Der Zukunftsbegriff eignet sich somit als Instrument für die Mobilisierung von Mehrheiten und lässt dabei jene als siegreich hervorgehen, die sich angesichts der virulentesten dystopischen Vorstellungen am geschicktesten als „Retter der Gegenwart“ inszenieren.
Manche Leute stricken sogar eine ganze Ethik um den Begriff der Zukunft, etwa die Anhänger des „Longtermism“, die aus dem Konzept des sogenannten „effektiven Altruismus“ den intuitiv einleuchtenden aber in letzter Konsequenz wahnsinnigen Gedanken ableiten, dass eine Politik der Gegenwart sich weniger an den Belangen im Hier und Jetzt orientieren sollte, sondern am Wohlergehen des (wohlgemerkt: rein theoretischen und potentiellen) zukünftigen Bevölkerungsstamms. Die Blüten, die dieses Denken treibt, spiegeln sich etwa in der Schlussfolgerung wider, dass hypothetische apokalyptische Szenarien rund um das Thema künstliche Intelligenz als bedeutsamer angesehen werden als die Beschäftigung mit der Klimakrise, die im Bild des „großen Ganzen“ der Longtermisten zu einem historischen Nebenschauplatz deklariert wird.
Der Bezug zur Zukunft, so lässt sich bis hierhin festhalten, wird also zu einem gewissen Grad immer wieder begleitet von einem Autoritätsargument: Je mehr ich mich augenscheinlich um die Zukunft Sorge, desto stärker wirkt der Wahrheitsanspruch meiner Prognosen. Aber es ist mehr als das: Je mehr ich die Zukunft als bereits gegeben und als unvermeidbare Folge aus Gegenwart und Vergangenheit begreife, je mehr meine Version der „Gang der Dinge“ also als unabwendbar und „naturwüchsig“ erscheint, desto mehr verliert Zukunft ihr angesprochenes kontingentes Potential.
Politische Interventionen und das Demokratieproblem der Schuldenbremse
Die Aufgabe von Politik könnte (oder sollte) es hingegen sein, die nur scheinbar unveränderbaren „Natureigenschaften“ des sozialen und politischen Lebens aufzufangen und auszugleichen. Das Beispiel, das diesen Text einleitete, spielte etwa schon auf die realen Folgen einer „Geburtenlotterie“ an, die sich nicht nur in der asymmetrisch einschränkenden Nationalstaatlichkeit ausdrückt, sondern auch in der Vererbung von Armut und Reichtum, die sich besonders in Staaten mit geringer Vermögensumverteilung bemerkbar macht.
Während die suggerierte Natürlichkeit und Rechtfertigung ungleicher Verhältnisse klassisch konservative Motive sind, erfordert die Erschaffung von politischen, zukunftsorientierten Freiheiten im Sinne eines universalistischen Ideals Maßnahmen, die eigentlich ideologieübergreifende Geltungskraft entfalten müssten. Demokratie ist normalerweise qua Verfassung an Maximen der Gleichheit gebunden (etwa die Gleichheit des Stimmrechts) und verfolgt im Kern den Gedanken, dass ein Wahlvolk den politischen Vektor in Richtung Zukunft durch Prozesse der Deliberation und Mehrheitsbildung in Eigenverantwortung bestimmt. Der Versuch, der demokratischen Deliberation allmählich politische Werkzeuge dieser Gestaltungsoffenheit zu entziehen, lässt sich aktuell in Bezug auf die Debatte rund um die grundgesetzlich festgeschriebene Schuldenbremse verfolgen:
Im Grunde könnte man hier nämlich selbst neoliberale und „long-termistische“ Denkmuster heranziehen, um sich die Frage zu stellen, inwiefern es das Recht einer historisch einmaligen politischen Konstellation im Bundestag sein sollte, die fiskalischen Spielräume aller künftigen Generationen gemäß der eigenen idealen Vorstellungen einzuschränken (die Tatsache, dass die sogenannte Konjunkturkomponente, eine zentrale Variable in der Berechnung der Schuldenbremse, sich stark an wirtschaftlichen Leistungen aus der Vergangenheit und nicht umso stärker an den Kapazitäten und Bedürfnissen der Zukunft orientiert, spricht hierbei Bände).
Geld ist am Ende des Tages ein soziales Konstrukt gegenseitiger Vereinbarungen und damit ein zentrales politisches Instrument. Politik geht in Demokratien „vom Volke aus“. Die Gestaltbarkeit von Fiskalpolitik im Zeitalter eines chronischen Investitionsstaus hinter schwer zu erreichenden Zweidrittelmehrheiten zu verbarrikadieren, kann somit mindestens als politisch problematisch, wenn nicht sogar als demokratieverhindernd angesehen werden.
“Zukunft” als universalistischer Humanismus
Vielleicht zeigt gerade das oben genannte Beispiel auf, was politische Debatten und globale Konflikte häufig im Kern ausdrücken – nämlich einen Wettstreit „um Zukunft“, angeführt von Szenarien, die oftmals einseitige dystopische Perspektiven instrumentalisieren, anstatt die prinzipielle Gestaltungsfreiheit als universalistisches Ideal zu etablieren und damit einen Humanismus stark zu machen, der sogar größer sein kann als die Legitimation vermeintlich zeitloser und ewiger Wahrheiten und Zustände, die sich aus dem Verweis auf Jahrhunderte der Gewalt und Gegengewalt ergiebt.
Je permanenter und allumfassender die Verunmöglichung von individueller und politischer Zukunftsgestaltung ausfällt, desto fruchtbarer wird der Nährboden, der Menschen erst in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit verfallen lässt, sie in die Arme von ideologischen Rattenfängern treibt, und ihnen dann im schlimmsten Fall den Rückgriff auf archaische und reaktionäre Grausamkeiten als einzig verbleibende, fatale Notwendigkeit erscheinen lässt. Erst die Erfahrung des Abstreifens von erlebten Notwendigkeiten als Entfaltung gleichmäßig verteilter Freiheitsräume ermöglicht es, an gemeinsamen Zukunftsbildern zu arbeiten, die nicht primär in der Vermeidung von Dystopien, sondern in der Konstruktion von Utopien begründet sind.