Über ethischen Spielekonsum und kulturelle Emanzipation
Entgegen der Vorstellung, dass Videospiele die letzte Bastion der unpolitischen Unterhaltung darstellen, haben viele kulturelle und journalistische Debatten der letzten Jahre immer wieder erfolgreich die gesellschaftliche Position und Verantwortung der Branche hervorgehoben: Sei es die Aufarbeitung von Bewegungen wie GamerGate und deren Verbindungen zum neurechten Kulturkampf, seien es Reportagen über schlechte Arbeitsbedingungen, Übergriffigkeit und Machtmissbrauch in namenhaften Entwicklungsstudios, oder ideologiekritische Anmerkungen zu Spielen wie Anno 1800 oder Kingdom Come: Deliverance – Videospiele sind ebenso vom Politischen durchzogen wie alle andere Kulturgüter und Kultur im Allgemeinen. Trotz dieser Menge an größtenteils aufklärerisch ausgerichteten Ansätzen der letzten Jahre, hat es ein Videospieldiskurs aus jüngster Zeit geschafft, die kulturkritische Auseinandersetzung mit Spielen auf eine bis dato unbekannte Ebene zu hieven: Geboren war der (mehr oder weniger) erste medienwirksame konsumethische Boykott eines Videospiels.
Die Rede ist natürlich von Hogwarts Legacy, dem lang erwarteten AAA-Prequel aus dem Harry Potter-Universum. Dessen geistige Schöpferin Joanne K. Rowling hat sich in den letzten Jahren immer wieder transfeindlich geäußert und dabei unmissverständlich klar gemacht, dass sie Menschen, die sich nicht mit dem zu ihrer Geburt zugeteilten Geschlecht identifizieren, entweder als Gefahr für cis Frauen betrachtet, oder als geistig verwirrte Teenager, die vor sich selbst geschützt werden müssten. In Kombination mit ihrem freundschaftlichen Verkehr mit weiteren Gestalten der sogenannten ‚genderkritischen‘ Bewegung, die bisweilen enge Verbindungen zu rechten und konservativen, fundamentalreligiösen Organisationen aufweisen, lässt sich festhalten, dass die reichweitenstarke Erschafferin des Harry Potter-Franchise im ‚günstigsten‘ Fall hochgradig naiv ist und sich bereitwillig ideologisieren lässt; im schlimmsten Fall aber genau weiß, was sie da tut, wofür sie ihr Sprachrohr nutzt und welches Leid sie damit mitunterstütz und befeuert.
Als sich Hogwarts Legacy also allmählich dem Release näherte, wurden die Stimmen derjenigen immer lauter, die sich zur Aufgabe machten, eben jene Probleme rund um JKR in die Welt zu tragen, und die unauflösbaren Verbindungen des bald erscheinenden Spiels zur Schöpferin aufzuzeigen. Drei Argumente entwickelten sich hierbei zum Kernrepertoire der Ablehnung gegen das Spiel – im privaten Konsum als auch in Form von publiziertem Video-Content:
Die finanzielle Verbindung. Auch wenn JKR bereits als mehrfache Milliardärin angesehen werden muss, ist jede Summe, die ihr aus Lizenz- und Royalty-Verträgen zukommt, ein potenzieller Beitrag für ihre Unterstützung von anti-trans Initiativen.
Die ungehemmte Aufmerksamkeit. Eine weitere, unreflektierte Sichtbarmachung des Harry Potter-Franchise sei damit nur eine Aufrechterhaltung der öffentlichen Position Rowlings, die weiterhin medial ‚Thema‘ bleibt, und deren Politik und Perspektive damit Relevanz behält.
Die Solidarisierung mit trans Menschen. Dieses Argument bezog sich darauf, dass viele Menschen den Boykott (finanziell als auch medial) als diejenige Aktion verstanden, die mit vergleichsweise geringen ‚Eigenkosten‘ ein sichtbares Zeichen setzen könne, das ‚allyship‘ und Verbundenheit ausdrückt.
Zwei weitere Argumente, die des Öfteren Thema waren, möchte ich kurz noch einwerfen, aber direkt etwas entkräften: Zum einen wurde (zurecht) wiederholt auf die antisemitischen Darstellungen der Kobolde in der Urvorlage hingewiesen, und mit Blick auf die zentrale Rolle Selbiger im kommenden Spiel ähnlich Stereotypes erwartet. Auch wenn das Design der Kreaturen im Spiel im Kontext der Vorwürfe weiterhin fragwürdig erscheinen mag, so wurden die meiste Kritik hierbei nur anhand von Trailer-Material vorgebracht, währenddes das finale Spiel auf der Plot-Ebene scheinbar keine so eindeutige stereotyp-diskriminierende Darstellung aufweist und auch sonst ein eher progressives Bild zeichnet. Ein zweites Argument, das gelegentlich vorgebracht wurde, war eine angebliche Aussage Rowlings, die sich darum drehe, dass sie jegliche Unterstützung ihres Franchise als Unterstützung ihrer politischen Weltsicht auffasse (hierbei handelte es sich um eine sehr freie Interpretation dieses Tweets).
Extrapoliert man diese These auf den Menschen als Konsumwesen, wie er durch den Alltag navigiert, würde das jedoch bedeuten, dass jegliche Weltanschauungen von Produzenten von Konsumgütern, für die ich bezahlt habe, die meinen notwendigerweise widerspiegeln müssten. Hierbei wird nicht sauber differenziert zwischen der Wirkung, die mit einer Konsumhandlung einhergeht und einer implizierten zwangsläufigen ideologischen Verbundenheit, die zwischen Käufer:in und Verkäufer:in dieser Logik nach besteht. In den meisten Fällen stellt sich diese Annahme schon allein deswegen als falsch heraus, da ich keine Ahnung habe, welche Menschen mit welchen Ansichten hinter den Produkten stecken, die ich konsumiere. Ich muss nicht die vollumfänglich identische Meinung eines Sachbuchautoren zur Welt teilen, um seinen Text als interessanten Meinungsbeitrag betrachten zu können, der mich bereichert. Es kann mir auch egal sein, welche Meinung ein Produzent von Jogurts im Privaten zum Thema Erbschaftssteuern hat, auch wenn meine eigene Haltung dazu gänzlich anders ausfällt. Ein seltsames Argument also, das unfreiwillig verschleierte, um was es im Kern bei der Hogwarts Legacy-Debatte tatsächlich ging: Nämlich darum, realen Schaden zu verhindern, der Unterstützung von öffentlicher Agitation gegen Minderheiten durch die Verweigerung von Geld und Reichweite zu entsagen und Solidarität mit einer gesellschaftlichen Minderheit auszudrücken.
Auch wenn diese ‚aktivistische Handlungsempfehlung‘ im öffentlichen Diskurs als Boykott bezeichnet wurde, ist es interessant zu sehen, wie schwierig diese Einordnung im Fall Hogwarts Legacy bei genauerem Blick eigentlich fällt. So findet sich beispielsweise im Wikipedia-Artikel zum Thema ‘Boycott’ folgender Satz: “The purpose of a boycott is to inflict some economic loss on the target, or to indicate a moral outrage, to try to compel the target to alter an objectionable behavior”. Während der “moral outrage” als Verurteilung der transfeindlichen Aussagen Rowlings gegeben ist, fällt es bereits viel schwerer, JKR als das Ziel der Debatte zu betrachten, von dem sich ein Wandel erwünscht wird. Auch die Zieldefinition im Artikel zum Thema ‘Consumer activism’ scheint nur in Teilen zu passen: „Consumer activism seeks to change how goods or services are produced in order to make the production process safer, more ethical, more environmentally friendly, and to make the products themselves safer and of better quality, or more available to consumers”. Die Forderung eines konkreten Verhaltenswandel auf Seiten der Produktion war nie wirklich Teil der Debatte rund um Hogwarts Legacy; das Entwicklungsstudio war zwar bisweilen selbst Gegenstand der Diskussion, dies aber nur recht kursorisch. Ebenso lässt sich, wie oben erwähnt, festhalten, dass der Boykott des Harry Potter-Franchises nie als Methode verargumentiert wurde, um JKR zur Einsicht zur bringen. Nochmal die Definition aus dem Wikipedia-Artikel: “Consumer activism challenges corporate practices in order to effect a change in production, or attempts to modify the behavior of consumers themselves“. Wenn das Abrücken von einer Handlungspraxis einer Firma hier nicht das Ziel ist, dann bleibt also nur noch die Konsumentscheidung des Subjekts selbst als Gradmesser für den Erfolg oder Misserfolg eines ethischen Boykotts wie dem um Hogwarts Legacy.
Denn der Kampf gegen die Popularität des Harry Potter-Universums war von Anbeginn ein Kampf gegen Windmühlen, zumindest wenn das eigens gesteckte Ziel der finanzielle Schaden des Studios (und damit indirekt von JKR) war, sowie die Eindämmung von medialer Aufmerksamkeit für das Franchise und damit dessen Schöpferin. Nach den ‚klassischen Kriterien‘ des Boykotts wäre dies also von Anbeginn ein zum Scheitern verurteilter Ansatz gewesen. So bleiben in meinen Augen zwei Hauptgründe, die für die Debatte sprechen, wie sie sich letztendlich abgespielt hat: Zum einen besteht im kollektiven Gedanke einer geeinten Tat, in dem Fall des Boykotts, tatsächlich ein symbolisches solidarisches Element. Wenn Teile der trans Community dies als empathische Identifikation mit ihrer gesellschaftlichen Position verstehen, dann lässt sich das schwer in Abrede stellen, auch wenn Abseits vom Symbolismus wenig davon verfangen mag. Der zweite Punkt, der für mich den entscheidenderen darstellt, ist der, dass gerade durch die Aufmerksamkeit und Popularität rund um Harry Potter eine enorme Masse an Menschen erreichbar schienen, die bisher weder von JKRs politischen Gender-Ansichten Bescheid wussten, noch von der Situation von trans Menschen allgemein.
Die Art und Weise, wie die Diskussion hierbei geführt wurde, hatte jedoch Licht- und Schattenseiten: Zwar war es richtig, auf die Politik Rowlings und auf die möglichen unterstützenden Effekte eines weiteren Geldflusses in ihre Richtung hinzuweisen, aber die starke Gleichsetzung des kommerziellen Franchise mit dem historisch gewachsenen Harry Potter-Fantum war argumentativ womöglich fatal und hat für Gräben gesorgt, die es nicht hätte geben müssen. Hier geht es für mich um mehr als eine simple, semiologisch fixierte Trennung von Autorin und Werk; ja, ein Werk lässt rein immanent Schlüsse zu, die über die Äußerungen einer realen Autorin hinausgehen, aber dies befreit einen auch nicht von der Verantwortung, die mit dem in die Welt gesetzten Wort einher geht. Dennoch würde ich dafür plädieren, dass es eine soziale Sphäre der Kultur gibt, die über die durch Rechtefragen abgesicherten Besitzverhältnisse hinausgeht.
Besonders im Fall von Harry Potter, einem Franchise, das eine Größe angenommen hat, bei der sich die Fankultur verselbstständigte und zunehmend von einer Heiligenverehrung der Schöpferin emanzipierte, lassen sich gute Gründe finden, nicht einfach so zu tun, als handele es sich bei der kulturellen Teilhabe daran um etwas prinzipiell Verdammenswertes. Im Gegenteil, das Gute, das durch das Fantasy-Universum in die Welt gebracht wurde, die lebensbejahende Erzählung, die schönen Erinnerungen und sozialen Verknüpfungen könnten einen potenziellen Schutzschild gegen all das Schlechte bilden, das JKR durch ihre Agitation der letzten Jahre verbreitet hat, und im Geiste dieses Gedankens gibt es bereits das ein oder andere Projekt aus der Community. Auch lässt sich zumindest darüber nachdenken, ob ausgerechnet im Bereich Kultur eine solch enge Sicht auf ‚legitime Besitzverhältnisse‘ und Copyright-Ansprüche einzelner Personen und Firmen (übrigens auch aus postkolonialer und anti-eurozentristischer Perspektive) nicht bereits im Kern als kritisierbar gesehen werden darf – ein Bereich, der so sehr von Adaption, Weiterentwicklung, und der Atmosphäre des Intersubjektiven Austauschs lebt. Eine stark emanzipierte Fan-Sphäre, die eine Aneignung des Harry Potter-Universums abseits von JKRs Einfluss anpeilt, könnte einen interessanten Präzedenzfall für ein solches Gedankenexperiment darstellen.
Hiermit könnte der Artikel eigentlich enden, wäre nicht unmittelbar nach der Debatte um Hogwarts Legacy ein ganz ähnliches Thema entbrannt, dessen mediale Verarbeitung jedoch auch Unterschiede aufwies. Atomic Heart von Studio Mundfish, das Büros in Russland bezieht und auch weitere Verbindungen zu russischen Geldgebern und Staatskonzernen aufweist, geriet nach jahrelanger Entwicklungszeit ins Fadenkreuz der Kritik und wurde letztendlich sogar Ziel eines Boykottaufrufs des ukrainischen Digitalministers. Eigentlich war die Situation hier eine ganz Ähnliche:
Es gab eine direkte (diesmal hauptsächlich finanzielle) Verbindung vom Spieletitel zu einem Akteur (in diesem Fall russische Staat), der hochgradig kritisch betrachtet wird und seine Mittel für Schädliches einsetzt
Es gab einen Boykottaufruf einer Lobby, die unter den schädlichen Taten leidet (die Ukraine, beziehungsweise der Digitalminister des Landes)
Es kam die Frage auf, ob besagtes Spiel problemlos gespielt werden könne, ohne einen Schaden anzurichten oder unsolidarisch zu sein
Vielleicht lag es daran, dass die Hogwarts Legacy-Debatte bereits in erschöpfender Länge ausgewalzt wurde und viele Diskutanten müde waren; vielleicht lag es an der Unbekanntheit von Atomic Heart im Vergleich zur epischen Popularität von Harry Potter; auf jeden Fall schien das Thema nicht im gleichen Maße eine Debatte loszutreten und die Gemüter zu erhitzen, wie noch im Fall Rowling. Trotz medialer Aufarbeitungen der Situation fielen die thematischen Sondersendungen auf Twitch zum Thema Atomic Heart größtenteils aus. Ohne in die Whataboutism-Falle tappen zu wollen, lässt sich hierbei zumindest aufzeigen, wie unterschiedlich die Bewertung von gesellschaftlicher Relevanz und der daran angepasste Eifer für die Diskursteilnahme sein kann, abhängig von eigenen peer-groups und den jeweiligen Bündnissen im Netz. Während die Probleme von trans Menschen bei vielen sozialaktivistischen Gruppen auf Twitter oder Twitch ein zentrales Thema darstellen, ist die Beschäftigung mit geopolitischen Konflikten wie dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ein Thema, das hier eher seltener eine breite Diskussion erfährt – dies soll auf keinen Fall eine wertende, sondern eine rein analytisch-beobachtende Aussage sein.
Was lässt sich aus den vorangegangenen zwei Debatten mitnehmen? Zum einen scheint es weiterhin wichtig zu sein, Videospiele in all ihren kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten zu beleuchten und ein Schlaglicht auf Problemfelder wie toxische Arbeitskultur oder minderheitendiskriminierende Aussagen zu werfen und die Akteure hinter solchen Problemen klar zu benennen. Außerdem lässt sich in der teils unterschiedlichen Rezeption im Fall von Hogwarts Legacy und Atomic Heart und mit Blick auf deren rein inhaltlich einigermaßen deckungsgleichen Beweggründe festhalten, dass die mediale Intensität, in der eine Debatte geführt wird, nicht zwangsläufig ein Indikator für die Einzigartigkeit des diskutierten Problems ist. Im Sinne eines sozialen Fortschrittsgedankens scheint mir zudem wichtig zu sein, Taktiken abseits von einem reinen Symbolismus zu bemühen, der sich darauf beschränkt, die eigene in-group besser von der zu meidenden out-group unterscheiden zu können, und die moralische Erhebung als oberste argumentative Maxime etabliert. Dies bedeutet im Fall Harry Potter, dass eine Perspektive, die verkennt, welche Rolle die Buchreihe für viele Menschen ganz unabhängig von ihrer Schöpferin spielt, auch verkennt, woher die Emotionalität in vielen Auseinandersetzungen stammt. Es verkennt die zumindest kulturelle Irrelevanz einer einzelnen Schöpferfigur in der Tradierung eines Werks über Jahrzehnte und unterschätzt die sozialen Aneignungsfähigkeiten sozialer Gruppen von Kultur. Genau hier hätte sich diskursiv die Chance eröffnet für ein argumentatives Kombi-Angebot aus Aufklärung zu Rowling, Bitte um finanzielle Nicht-Unterstützung und Anerkennung einer emanzipierten Weiterführung des Harry Potter-Erbes. Trotz dieses nüchternen Fazits bin ich mir jedoch sicher, dass die Debatte dennoch einiges erreicht hat und das Wissen über die Probleme rund um Rowling in Ecken der Bevölkerung brachte, die diese bisher nicht auf dem Schirm hatten. Wir werden dann spätestens bis zum Release von Hogwarts Legacy 2 sehen, als wie langfristig sich diese Aufklärung herausstellt; denn allzu schnell wird dieses Franchise nicht von der Bildfläche verschwinden.