Protest und Propaganda in Russland, Ideengeschichte des Generationen-Begriffs und die chinesische Filmindustrie
Diese Woche in der Grübelkiste: Ein Video über eine russische Perspektive auf die Schwierigkeiten, zivilgesellschaftlichen Protest zu organisieren; ein Text über den ideengeschichtlichen Wandel des Generationen-Begriffs; und ein Podcast über Vergangenheit und Gegenwart der chinesischen Filmindustrie. Viel Spaß!
Russia: War, Truth And Protest In A Pool of Noise (a Russian’s perspective) | bazazilio
Um was geht es?
Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 wird nicht nur ununterbrochen über den Sinn und Unsinn von Waffenlieferungen und Verhandlungen diskutiert, sondern auch immer wieder die Rolle der russischen Politik und Zivilgesellschaft hervorgehoben. Welche Gründe gibt es für die scheinbare Widerstandslosigkeit der Bevölkerung, in welchem Verhältnis befinden sich autokratische Sehnsüchte und demokratische Reformbemühungen im Land? Welche “Schuld” trägt die Gesellschaft als solche für den in die Tat umgesetzten Revanchismus ihrer obersten Führer? Die russischstämmige YouTuberin bazazilio wirft einen reflektierten Blick auf den Vorwurf der “untätigen Zivilgesellschaft”, den Zustand oppositioneller Kräfte vor und nach Invasionsbeginn, die staatliche Propaganda und die zentralen Bedingungen für starke Protestbewegungen.
Was hängen blieb:
Das Video ist zwar schon ein paar Monate alt, aber in seiner Analyse sicherlich weiterhin zutreffend und gedankenanregend. bazazilio beschreibt nachempfindbar, wie der Invasionsbeginn ihre Hoffnungen auf die oppositionellen Kräfte im Land erschütterte. Den Protesten der letzten Jahre wurde laut ihr zwar schon immer mit staatlicher Repression begegnet, die Katz-und-Maus-Jagd zwischen Behörden und Demonstranten spielte sich jedoch meist in einem kalkulier- und absehbaren Rahmen ab. Dies änderte sich mit dem 24. Februar 2022. Den plötzlichen Einbruch einer bitteren Realität bringt bazazilio treffend auf den Punkt: “When you live in a fake democracy, you only have an illusion of rights”.
Ein zentraler Aspekt des Essays ist die Erkenntnis, dass dezentral organisierter Protest allein nicht ausreicht. Auch wenn das 21. Jahrhundert durch neue Kommunikationsmittel beispielslose Massenbewegungen zu verzeichnen hatte, braucht es für einen nachhaltigen erfolgreichen politischen Wandel zentrale Anlaufstellen, die Protestpotentiale bündeln und strategisch organisieren. Nachdem das Team rund um Alexei Nawalny ein Jahr vor Beginn der Invasion die Arbeit in Russland einstellen musste, ergab sich hier eine Leerstelle, die trotz verstreuter aktivistischer Aktionen im Land (Brandstiftung, Schienenzerstörung, Anti-Kriegs-Botschaften im Stadtbild) nicht ausgefüllt werden konnte.
Besonders spannend sind jedoch bazazilios Überlegungen zur russischen Propaganda. Statt dem Publikum orwellianische Botschaften à la “Krieg ist Frieden” zu verkaufen, wird Meinungspluralität in TV-Debatten vorgegaukelt und eine Situation der informativen Unklarheit erzeugt:
They don’t need to hide the truth, they just need to drown the truth in noise […] Confusion is the new form of censorship
Social-Media entwickelt sich in den Händen des Staates zu einer gelenkten Meinungsmaschine, die durch bewusst gestreute Kommentare eine gesellschaftliche Zustimmung zum Krieg vorgaukelt, die Kriegsgegnern das hoffnungslose Gefühl vermitteln soll, in der Minderheit zu sein – ein sich selbst befeuernder Prozess mit entpolitisierenden Folgen. Statt in blindem Selbsthass zu verzweifeln und dem russischen Volk eine “Untertanenmentalität” vorzuwerfen, orientiert sich bazazilio für Gegenstrategien am populären Buch Why Civil Resistance Works von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan, bei dem an erster Stelle die harte Überzeugungsarbeit von Hoffnungslosen, propagandistisch Verklärten und Systemanhängern steht (“loyalty shifts”). Verabschieden sollte man sich schließlich vom hinderlichen Gedanken, dass all dies einfach sei.
Die Frage, inwiefern in zunehmend technologisierten Autokratien umfangreiche Gegenwehr leistbar ist, beschäftigt mich schon länger. Während Entwicklungen wie im Arabischen Frühling oder in Ländern wie Hong Kong, Belarus oder Russland die Aussicht auf demokratische Verhältnisse in weite Ferne rücken ließen, zeigte etwa die chinesische Aufmüpfigkeit zu Zeiten der Corona-Maßnahmen, dass die Unterdrückung einer Bevölkerung trotz totalitärer Apparate womöglich nicht unendlich ausgedehnt werden kann, und auch der jüngste Regierungssturz in Bangladeschs beweist, dass sich Dinge oft schneller ändern können als absehbar. Dennoch bleibt die Frage offen, wie die technischen und organisatorischen Mittel der Zeit und der basisdemokratische Kosmopolitismus, den das digitale Zeitalter versprach, gegen die Autokraten aller Welt stark gemacht werden können.
Letzte Generation. Die Rückkehr des “Problems der Generationen” | Geschichte der Gegenwart
Um was geht es?
Der Begriff der Generationen bezeichnet im politischen Diskurs weitaus mehr als nur einen demographischen Sachverhalt: Zugespitzt als “Generationenkonflikt” prägte er vor allem die Klimadebatte der letzten Jahre und gipfelte hierzulande schließlich in der aktivistischen Selbstbeschreibung der Letzten Generation, die seit 2022 mit öffentlichwirksamen Mitteln vor irreversiblen Kipppunkten warnt und für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels kämpft.
Während im Feld der Klimapolitik “die junge Generation” somit als progressive Opposition gegen die Versäumnisse ihrer Eltern und Großeltern gehandelt wurde, sorgte die demographische Aufschlüsselung kürzlicher Wahlergebnisse fast schon für ein diametrales entgegengesetztes Bild. Die Sache mit den Generationen scheint komplexer zu sein, als man denken mag, und die politisch-aktivistische Besinnung auf den Begriff somit ebenso. Diesem Gedanken verschreibt sich auch Carlotta Voß, die in ihrem Text für Geschichte der Gegenwart einen ideengeschichtlichen Abriss vornimmt und die emanzipatorischen sowie anti-liberalen Tendenzen von Generationsbezügen herausarbeitet.
Was hängen blieb:
Voß beschreibt konkret die Entwicklungsgeschichte des generationalen Denkens im deutschsprachigen Raum seit Ende des 19. Jahrhundert und zeigt dabei auf, wie sich die “Generation” in die politischen, sowie geschichts- und moralphilosophischen Diskurse der jeweiligen Zeit eingeschrieben haben. Mit Bezug auf Reinhart Koselleck sieht die Autorin dabei vorrangig die in der Neuzeit aufkommende kulturelle Reflexion von “Verzeitlichung” als Grundlage für Erzählungen des gesellschaftlichen und historischen Wandels, die generationale Bezüge herstellen.
Die daraus entstehenden positivistischen sowie romantisch-historischen Aneignungen des Begriffes und die zunehmende Systematisierung dessen zeichnet Voß detailliert nach – von der Jugend als Identitätsstifterin für aufkommende Clubs Ende des 19. Jahrhundert, Ortega y Gassets Vorstellung der Generation als Kollektivsubjekt der Geschichte, Karl Mannheims soziologischer Beschreibung von Generationenzusammenhängen und -einheiten, bis hin zum Generations-Begriff als therapeutische Selbstdistanz und moralische Abgrenzung für die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Immer im Mittelpunkt stand dabei die Idee, Sinnstiftung in der säkularisierten Moderne in der Lebenskraft und im Fortschrittsoptimismus der Jugend zu finden, die sich in einem agonalen Verhältnis zu den bestehenden Verhältnissen befand.
Die Veröffentlichung des ersten Berichts des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums und die Bezugnahme auf “Generationengerechtigkeit” sorgte schließlich für einen erneuten Wandel der Vorstellungen von Zeitlichkeit und Geschichte. Statt den Generationsbegriff primär als Ansprache für politische Akteure zu nutzen, wurden hierbei die akkumulierten Folgen des politischen Handelns von Alterskohorten herangezogen, um ein Fürsorgeverhältnis herzustellen, das die Möglichkeiten der Nachhaltigkeit für künftige Generationen in den Mittelpunkt stellt. Auch wenn im Fall der Letzten Generation der Begriff nun wieder als politische Ansprache gebraucht werde, so Voß, stünde hierbei eine Gerechtigkeitstheorie im Vordergrund, die von “intergenerationalen […] Schuldbeziehungen und einem apokalyptischen Horizont” geprägt sei:
Die Generation im Anthropozän weiß sich immer als potentiell “Letzte Generation”. Sie ist im Selbstverständnis nicht mehr Zukunftsträgerin und Zukunft ist für sie nicht mehr das Weite, Offene politischer Gestaltung – sondern eine verlängerte Gegenwart des Überlebens, die gegen die Handlungsentscheidungen der Vergangenheit verteidigt werden muss.
Voß‘ Mahnung, bei der politischen Nutzung des Generationen-Begriffs eine ideengeschichtliche Reflexion nicht zu vergessen, enthält viele spannende und politstrategische Punkte, die etwa dabei helfen könnten, vermeintliche politische Widersprüchlichkeiten in jungen Generationen besser zu verstehen. Als zentral erweist sich zudem das Verhältnis von agonalen Dynamiken (Generationenkonflikte als Emanzipationstreiber) und Fürsorgeverhältnissen (im Sinne eines “Kümmerns” um zukünftige Generationen), vor allem mit Blick auf das veränderte Zeitverständnis im Anthropozän. Selten war die Zukunftsgestaltbarkeit als Möglichkeit einer Abkehr von ausgetretenen Pfaden notwendiger als heute; und doch stellt sich die Frage, ob die Rhetorik des Alarmismus und eine Identitätsstiftung durch Apokalyptik (trotz all des wissenschaftlich fundierten Anlasses zur Sorge) nicht zur Zukunftsverengung beitragen und die politisch-aktivistischen Potentiale von Generationalität in eine Art Sackgasse manövriert. Es wird sich noch herausstellen müssen, ob und inwiefern sich der generationengerechte Anspruch auf “Gegenwartsinstandhaltung” (auch mit Blick auf die “Bewahrung der liberalen Demokratie”) mit dem politischen Wunsch nach Abgrenzungen und Neuanfängen verknüpfen lässt.
Folge 43: Die chinesische Filmindustrie | China ungeschminkt
Um was geht es?
Die chinesische Filmindustrie boomt. Nicht nur für Hollywood-Produktionen, die in der wachsenden Konsumgesellschaft des Landes einen wichtigen Absatzmarkt sehen, sondern auch für heimische Werke, die zunehmend mit dem Bombast westlicher Produktionen schritthalten. Doch wie sehen die Ursprünge des Films in China aus, und welchen Probleme begegnen aus- und inländische Filmemacher:innen heutzutage beim Versuch, sich künstlerisch auszudrücken? Der Podcast China ungeschminkt wirft einen Blick auf Geschichte und Gegenwart des Mediums in China.
Was hängen blieb:
Der Podcast bietet eine kurzweilige historische Übersicht über einige der wichtigsten Stationen der chinesischen Filmgeschichte, etwa den ersten Boom im Shanghai der 1920er-Jahre, den Einfluss der japanischen Besatzung ab 1937, die planwirtschaftliche Integration unter Mao ab 1949, die Zensur in der Kulturrevolution und das kreative Aufblühen im Kino der sogenannten 5. Generation zur Zeit der Reform- und Öffnungspolitik, welches sogar Kritik an der Mao-Zeit in allegorischer Form ermöglichte. Auf die zunehmende Öffnung des heimischen Filmmarkts für internationale Werke ab Mitte der 1990er-Jahre folgte jedoch mit dem sogenannten “Changsha-Treffen” zwischen Vertretern der chinesischen Filmindustrie und dem Ministerium für Radio, Film und Fernsehen eine Zunahme der staatlichen Repression und die Forderung, Patriotismus und sozialistische Werte stärker zu betonen.
Trotz dieser zunehmend schwierigen Bedingungen wuchsen Umsätze und Kino-Infrastruktur auf rasante Weise an, und auch der chinesische Filmgeschmack präferierte immer häufiger heimische statt ausländische Filme. Große Produktionen wie der Film Founding of a Republic oder die Serie Im Namen des Volkes lassen dabei die Grenzen zwischen Unterhaltung und Propaganda zunehmend verschwimmen. Die Kehrseite dieser Entwicklung drückt sich etwa in den Schicksalen von Regisseuren wie Wang Xiaoshuai aus, der mit seinem Film Above The Dust, der von Nachkommen eines Großgrundbesitzers in der Zeit der Landreform der 1950er-Jahre erzählt, Dutzende Zensuranweisungen befolgen musste, und der sich mit seiner Vorführung zur diesjährigen Berlinale den chinesischen Zensoren widersetzte.
Für mich stellt sich damit fundamental die Frage, welche Reaktion in der aktuellen Situation unter jungen chinesischen Filmemacher:innen vorherrschend ist: Sich den Zensurbedingungen unterzuordnen, oder den Versuch zu unternehmen, eine eigene Semantik zu entwickeln, um zumindest in allegorischer und metaphorischer Form den eigenen Ansprüchen an Kunst nachzukommen. Die Analyse einer solchen, auf genuin chinesischen Erfahrungen und kulturellen Deutungsmuster basierenden Semantik könnte ungemein ertragreich sein und dem Klischeebild eines rein propagandistischen Produktions- und Konsumptionsapparates in China entgegenwirken.
Eine Kiste bunt Gemischtes: