Prekäre Zukunft, entzauberter Fortschritt: Wie die (Spät-)Moderne mit ihren Verlusten umgeht
Die moderne Gesellschaft hat in Zukunft realistischerweise nicht immer mehr Überfluss und Freiheit zu gewinnen, sondern viel an Erreichtem und Erkämpften zu verlieren. Für sie wäre es in vieler Hinsicht ein Erfolg, das erreichte Niveau einigermaßen zu halten.
Was Andreas Reckwitz seinem gesellschaftspolitisch interessierten Publikum auf den letzten Seiten von Verlust – Ein Grundproblem der Moderne anzubieten hat, ist milde gesagt ernüchternd. Auf über 400 Seiten arbeitet sich der renommierte Praxissoziologe in seinem neusten Mammutwerk an den blinden Flecken der modernen Gesellschaft und ihrer Fortschrittsgläubigkeit ab. Eben diese, zunehmend unbearbeiteten gesellschaftlichen Kehrseiten von Rationalität, Technologie und moderner Staatspolitik beschreibt Reckwitz mit dem Begriff des Verlusts. Die (Spät-)Moderne, so die große These im Buch, eskaliere diese Verluste nicht nur zunehmend quantitativ und qualitativ, sie scheitere auch aus systeminhärenten Gründen daran, sich der eigentlichen Verlustproblematik überhaupt bewusst zu werden.
Diese Problematik beschreibt Reckwitz ausschweifend, mitunter ausufernd, vor allem in der Darlegung seiner Systematik und der Auflistung etlicher Sonderfälle der Verlustproduktion und -bearbeitung (erst allgemein mit Blick auf die Moderne, dann spezifisch für die Spätmoderne – was mitunter gewisse Redundanzen erzeugt). Zentral beschreibt Reckwitz drei Dimensionen des Verlustgeschehens: Zeitlichkeit, Narrativität und Affektivität. Verluste sind hierbei (1) Produkte sozialer Prozesse der Wiederholung und des Neubeginns, Mediationen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; (2) vermittelt durch erzählende Diskurse und Praktiken; (3) verankert in emotionalen Bindungen zwischen den Subjekten, die Verluste empfinden, und den Tatsachen oder Objekten, die die Ursache für den Verlust darstellen.
Wichtig zu verstehen ist dabei, dass aus der Perspektive von Reckwitz‘ Praxistheorie die soziale Welt aus der Verschränkung von Akteuren und Strukturen besteht, aus wiederholten Interaktionen und Beziehungen. Verlust existiert dadurch nicht primär in Form einer objektiven Feststellung, sondern als subjektive Empfindung (dies werde ich am Ende des Textes nochmals aufgreifen). Verluste sind nun für Reckwitz solche verlorengegangenen Praktiken – und damit Bindungen – die für ein Subjekt in besonderer Weise als identitätsstiftend angesehen wurden und deren Verschwinden damit eine außerordentliche negative Reaktion hervorrufen. Die Härte von Verlusten drückt sich zudem dadurch aus, dass diese als unverfügbar wahrgenommen werden und der aktiven Steuerung und Kontrolle entzogen sind.
Eine besondere Relevanz gewinnt der Verlustbegriff für Reckwitz nun durch die Fortschrittsorientierung, die ihm zufolge mit der Moderne Fahrt aufnimmt. Da die Zukunft laut diesem wirkmächtigen Versprechen immer rosiger werden soll, ohne den bereits gewonnenen Zugewinn dabei wieder zu verlieren, sei die moderne Gesellschaft ganz besonders von Krisen des Fortschrittsnarrativs in Gestalt des Verlusts bedroht. Der Erwartungshorizont der Zukunft, die nun als andersartig, offen und überlegen angesehen wird, entkoppelt sich vom Erfahrungsraum der Vergangenheit, die in Abgrenzung zur Vormodernen als negativ bewertet wird. Durch die Hegemonie von Fortschrittserzählungen und ihren Versprechungen (Freiheit und Überfluss) werden Verlusterfahrungen damit zunehmend schwieriger zu vermitteln.
Die Verlustbearbeitung der Moderne, die sich für Reckwitz aus dieser Dynamik ergibt, wird als eine zutiefst paradoxe beschrieben. Auf der einen Seite werden Verlusterfahrungen reduziert, auf der anderen Seite aber auch gesteigert; sie werden unsichtbar gemacht, aber gleichzeitig auch intensiviert. Zwar ist es prinzipiell das Ziel der Moderne, durch die Mittel von Technik / Wissenschaft, Ökonomie und staatlicher Politik Verluste natürlicher und sozialer Art zu reduzieren, jedoch sorgt sie durch strukturelle und kulturelle Faktoren selbst wieder für eine Potenzierung von erlebten Verlusten. Als strukturell bezeichnet Reckwitz etwa das Regime der Obsoleszenz, in dem das Neue und Austauschbare vorherrscht, oder die Vermarktlichung des Sozialen, was Vergleiche zwischen Subjekten und ihren Erfolgen sowie Misserfolgen bestärkt; als kulturelle Faktoren gelten dagegen etwa die Expansion des Fortschrittsnarrativs (von kognitiven zu normativen Erwartungshaltungen, sowie in Form einer Verschiebung vom gesellschaftlichen Ganzen auf das einzelne Subjekt), als auch eine intensivierte emotionale Empfindsamkeit, die sich in persönlichen Beziehungen und in der generellen Ästhetisierung des sozialen Lebens ausdrückt.
Ähnliche Widersprüchlichkeiten beschreibt Reckwitz auch in Bezug auf die Invisibilisierung und Artikulierung von Verlusten in der Moderne. Unsichtbar gemacht werden Verluste auf zweierlei Weise: Entweder in der Form einer narrativen Relativierung, in der Verluste etwa als illegitim, als temporär, oder als Preis für den Fortschritt umgedeutet werden; oder ihre gesellschaftliche Artikulation wird durch eine Verschiebung ins Private, durch die Stigmatisierung von Verlierern, oder durch die Erosion nichtmoderner (kosmologischer, tragischer, heroischer) Verlustnarrative gehemmt. Dennoch artikuliert werden Verlusterfahrungen Reckwitz zufolge schließlich auf ganz unterschiedliche Weise, etwa durch das in der Kunst verarbeitete Sujet der Nostalgie, in der Ökonomisierung des Sozialen in Form der Risikokalkulation, in der Therapeutisierung oder in politischen Formen des “Verlustschutzes” (Konservatismus, Versicherungswesen, Anerkennung und Restitutionen von politischen Opfern).
Na, glüht euch schon der Kopf? Wundern würde es mich nicht, denn die Systematik der Verlustbearbeitung in der Moderne, die Reckwitz vorlegt, verstrickt sich leider zu oft in einer Auflistung singulärer Fälle und Phänomene, die den methodologischen Rahmen mitunter als schwammig und inkonsistent erscheinen lassen. Zwar entwickelt Reckwitz im Laufe des Buchs ein ganzes Vokabular zur Klassifizierung von verschiedenen Verlustformen, das etliche Affix- und Präfixkonstruktionen rund um den Begriff miteinschließt, zur besseren Übersicht trägt dies allerdings nicht wirklich bei – auch deswegen, weil so manche Erkenntnis als verklausulierte Binse daherkommt. Beispiel gefällig?
Die Gegenwart ist die Zukunft der Vergangenheit, daher kann man im Vergleich zu Letzterer auf ihrer Höherwertigkeit bestehen. Erst die jeweilige Gegenwart ist wirklich modern, und die vergangenen Technologien oder kulturellen Gewohnheiten selbst der letzten Generation erscheinen ihr bereits als veraltet.
Klingt komplex, ist aber recht banal. Kommen wir jedoch zurück zum eigentlichen Argument des Buches. Nachdem Reckwitz die Moderne in Hinsicht auf ihre Verlustbearbeitung ausschweifend beschrieben hat, widmet er sich schließlich der Spätmoderne ab den 1970er-Jahren, die für den Soziologen in qualitativer sowie in quantitativer Hinsicht eine Eskalation der Verlustdynamik darstellt. Kurz führt Reckwitz durch einige der geschichtlichen Rahmenbedingungen, die den gesellschaftlichen Wandel hervorriefen:
Da wäre die zunehmende Globalisierung und der Abbau von nationalstaatlichen Regulierungen, der Ölschock von 1973, ein Vertrauensverlust in die keynesianische Wirtschaftspolitik, steigende Arbeitslosenzahlen sowie Staatschulden, als auch der Wandel hin zur postindustriellen Gesellschaft mit wachsendem Dienstleistungsanteil, was zunehmend heterogene Klassenverhältnisse hervorbringt. Das Zeitregime, das in der industriellen Moderne seit den 1920ern noch ein vorrangig positives war, wandelt ist nun in ein grundlegend skeptisches. Fortschritt erscheint nun nicht mehr als alternativlos, sondern als eine (schwindende) Möglichkeit unter anderen. Der Präsentismus, die Hyperfokussierung auf die Gegenwart, nimmt zu – in positiver (Erlebniskultur) wie in negativer (Doomscrolling) Hinsicht.
Die Zukunft wird währenddes immer häufiger dem Sujet der Katastrophe untergeordnet, entweder in dystopischen fiktionalen Erzählungen, in wissenschaftlichen Szenarien, oder in der Normalisierung von Unfällen und systemischem Versagen. Wo früher noch zukunftsgewandte nationalstaatliche Planung tonangebend war, drängt nun ein Präventionsregime in den Vordergrund, dass die bereits antizipierten Verluste lediglich abfedern soll. Zentral für die Spätmoderne ist für Reckwitz zudem die Subjektivierung des Fortschrittsnarrativs: während eine Verbesserung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse immer unwahrscheinlicher scheint, verlagert sich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf die Vervollkommnung und Verbesserung des eigenen privaten Lebens. Dieses Auseinanderdriften von persönlichen und gesellschaftlichen Erwartungen deckt sich tatsächlich mit so manchem Studienergebnis der letzten Jahre. Während sich positive Emotionen wie Freude, Neugier, Faszination und Hoffnung damit bei den Subjekten sammeln, bleiben für die kollektive Ebene nur negative Affekte wie Angst, Trauer oder Wut.
Verantwortlich für die Eskalation des Verlustgeschehens in der Spätmoderne sieht Reckwitz spezifische zeitaktuelle “Verlustschübe”, die allesamt Ergebnis des oben bereits angesprochenen Strukturwandels sind. Dazu der Autor selbst:
Die liberale Postindustrialisierung bringt eben nicht nur die Gewinner der Wissensgesellschaft, der Meritokratie und der liberalen Kultur hervor, sondern auch die Verlierer der Deindustrialisierung, der Vermarktlichung und der kulturellen Liberalisierung. Der Zuwachs des Massenkonsums auf globaler Eben führt eben nicht nur zu einer Steigerung des Lebensstandards in der Weltgesellschaft, sondern heizt auch den Klimawandel an. Die Dominanz der (neo)liberalen Politik mit ihren Vorzügen, was Handel, Konsum und Diversität angeht, bewirkt in Teilen der Bevölkerung einen Vertrauensverlust in die Demokratie, der anschließend zum Aufstieg von Populismus und zu einer politischen Polarisierung führt, die wiederum in demokratische Regressionen mündet. Die kritische Geschichtskultur und die Verbreitung des Ideals der Menschenrechte machen die kollektiven Traumata der Vergangenheit erst sichtbar. Die psychologisierte Selbstverwirklichungskultur steigert nicht nur individuelle Entfaltungschancen, sondern sensibilisiert auch für subjektive Verletzungen und erhöht das Risiko von Erwartungsenttäuschungen. Die für die postindustrielle Wohlstandsgesellschaft typische Kombination aus hoher medizinischer Leistungsfähigkeit und niedriger Geburtenrate hat schließlich eine fragile alternder Gesellschaft zur Folge.
Gerade in Bezug auf die Subjektivierung des Fortschrittsnarrativs bietet die Spätmoderne Potential für allerlei Spannungen. Neben dem Subjekt, das Verluste erleidet, und dem Objekt, das die Grundlage für den Verlust darstellt, gesellt sich seit in der Moderne eine dritte Instanz in Gestalt des Schuldigen oder Gewinners hinzu. So bildet die Deutungshoheit über die Legitimität von Verlusten und Opfern einen weiteren elementaren Bestandteil der Spätmoderne, ebenso wie die Diskrepanz zwischen denjenigen, die sich erfolgreich gegen die genannten Verlustschübe abschirmen können, und jenen, denen dies nicht vergönnt ist. All dies mündet für Reckwitz in einen spezifisch spätmodernen Umgang mit Verlusten, der beispielsweise die Praktiken einer Cultural Heritage-Kultur, der Restorative Justice, der Resilienz, des Verzichts und neuer Trauerkulturen miteinschließt. Auch die Akzeptanz des Verlustes als nachhaltigen Identitätsanker, etwa im Zuge von Trauerarbeit, meint Reckwitz in der Spätmoderne zu erkennen.
Und damit sind wir endlich bei der Frage angekommen, die mir selbst beim Lesen die ganze Zeit unter den Nägeln brannte: Welchen Ausweg sieht Reckwitz für die von ihm beschriebenen Misere? Der Antwort widmet er sich auf wenigen abschließenden Seiten. Hier beschreibt er drei mögliche Entwicklungspfade für die Moderne: Die Weiterführung ihrer klassischen Ideale (mit der Spätmoderne als bald vergessene Zwischenphase) den Zusammenbruch, sowie die Reparatur. Für Reckwitz bietet nur die Reparatur der Moderne die Möglichkeit einer Überwindung der Kernproblematik und damit des Widerspruchs zwischen Fortschrittsorientierung und unvermeidlichen Verlusten. Und wie lässt sich diese Reparatur herstellen?
Die zentrale Einsicht in diesem Szenario ist, dass eine Moderne, die anstrebt sämtliche Verluste aus der Welt zu schaffen, sich immer schon in einer Sackgasse befand. Verluste von sich abzuspalten, konnte nie gelingen - und zukünftig gilt dies umso weniger. Die nötige Revision besteht entsprechend darin, ein Bewusstsein für Verluste nicht als Makel der nostalgischen Rückwärtsgewandtheit oder des Defaitismus zu begreifen.
Richtig gelesen: Notwendig sei für Reckwitz lediglich das Eingeständnis, dass Verluste eben zum Leben dazugehören, dass man auf Unvermeidliches eben eingestellt sein müsse. Mehr noch, die progressive Orientierung am Neubeginn sei ihm zufolge gar infantil:
Die Moderne war von Anfang an von einem mitreißenden Ideal der Jugendlichkeit geprägt, das sich aus ihrer Orientierung am Neubeginn und an der Zukunft speiste. Nach 250 Jahren wird es Zeit, dass sie erwachsen wir und lernt, klug mit den Verlusten umzugehen.
Auch die “goldene” industrielle Phase zwischen Weltkriegsende und Beginn der Spätmoderne, die Reckwitz regelmäßig als Trente Glorieuses bezeichnet, fuße lediglich auf einer historisch einmaligen Phase, in der ein demographischer Boom, das Ausblenden von ökologischen und sozialen Folgen und kurzfristig befriedete politische Verhältnisse für ein einzigartiges Wirtschaftswachstum in Westeuropa und Nordamerika gesorgt hätten. Sind wir also alle gezwungen, in den sauren Apfel der Erkenntnis zu beißen, den Gürtel wieder enger zu schnallen, Hoffnung auf bessere Verhältnisse fahren zu lassen?
Indem Reckwitz den Verlustbegriff zum soziologischen Tatbestand erklärt und in einen untrennbaren Widerspruch zur Idee des Fortschritts stellt, immunisiert er sich auf gewisse Weise selbst gegen Kritik. Zwar stimmt es etwa, dass die Unvermeidlichkeit des körperlichen Verfalls in einer Gesellschaft mit wachsender Lebenserwartung und medizinischem Fortschritt neue Konflikte hervorbringt, oder dass Errungenschaften wie eine demokratische Verfassung neue Verlustängste zur Folge haben. Dennoch überzeugt mich die Schlussfolgerung nicht, dass die größte Dringlichkeit für die Analyse und Bewältigung der gesellschaftlichen Probleme der Spätmoderne vorrangig darin bestünde, die Unüberwindbarkeit gewisser Verluste in Form eines tugendhaften Akts zu akzeptieren.
Trotz aller berechtigter Kritik am Fortschritt (Adorno und Horkheimer lassen grüßen) sollte das politische Ziel einer besseren Gesellschaft nicht als infantiler und fehlgeleiteter Wunsch abgetan werden. Statt globale Entwicklungen wie die Hegemonie einer neoliberalen Wirtschaftspolitik oder sich zuspitzende Klassenkonflikte als lineare, sich der politischen Kontrolle entziehenden und kontingenzfreien Ereignisse zu betrachten, sollte die Frage doch viel eher lauten, wie sich gesellschaftliche Probleme wieder erfolgreich in den Modus der Politik überführen lassen. Schließlich offenbart die zunehmende Verlagerung von sozialen und ökologischen Externalitäten ins Private, wie Reckwitz es selbst beschreibt, einen umfassenden Prozess der Entpolitisierung, was bereits von anderen politischen Theoretikern als fundamentales Problem der Gegenwart erfasst wurde.
Auch die inhaltlich unbestimmte Form des Verlustbegriffs sorgt für einige Probleme. Qualitativ ist der Verlust eines Arbeitsplatzes damit nicht unterscheidbar von der nachhaltigen Zerstörung der klimatischen Lebensbedingungen für den Menschen als solchen. Den Klimawandel damit auch nur als einen Verlust unter vielen zu sehen, dem es mit Resilienz und Bewusstsein für das schon bald schon Verlorengegangene zu begegnen gilt, scheint mindestens verfehlt, wenn nicht gar fahrlässig.
Nur teilweise überzeugend wirkt durch die konsequente Abstraktion schließlich auch der von Reckwitz beschriebene Zusammenhang zwischen den Leistungsanforderungen, die eine westliche Mittelklasse zu erfüllen habe, und der daraus resultierenden Teilhabe am Fortschrittsversprechen, sowie der Umkehrschluss, dass bei anhaltenden Verlusten die Logik der fortschrittsgetriebenen Lebensführung auf der Kippe stünde. Konkreter in den Problemen des Hier und Jetzt verankert findet sich ein ähnliches Argument in Simon Schaupps aktuellem Buch Stoffwechselpolitik, in dem er detailliert einen historisch gewachsenen fossilen Klassenkompromiss beschreibt, dessen Aufbrechen beim Übergang in ein postfossiles Zeitalter diverse, nur schwer zu bewältigende Verwerfungen mit sich bringt.
Für den Praxissoziologen Reckwitz ist der zentrale analytische Bezugspunkt seines Buches ein “vulnerables Subjekt, das ohne narrative, emotional imprägnierte Identität nicht existenzfähig und durch den Verlust […] geschädigt ist”. Freiheit und Überfluss, die Versprechungen des Fortschritts “bieten keine passenden Antworten für eine solche beschädigte Identität”, so Reckwitz. Ich wage, zu widersprechen.
Es stimmt: Existenzielle Bestandteile des Lebens wie der Tod werden auch in Zukunft Teil der conditio humana sein. Aber gleichzeitig gibt es noch viel zu tun, viel zu erreichen, um unsere eigenen, häufig zwar in Worten gegossenen, aber noch nicht in Taten umgesetzten Ideale zur Verwirklichung zu bringen. In einer Welt, in der die Schere zwischen Arm und Reich zunehmend auseinandergeht, in der ein Großteil der klimaschädlichen Produktion und Konsumtion von einer Handvoll Menschen in mächtigen und privilegierten Positionen ausgeht, in der demokratische Praktiken in quantitativer und qualitativer Hinsicht weltweit ausbaufähig sind, gibt es keinerlei Grund, den gesellschaftlichen Kampf für eine andere, für eine bessere Welt, als überholte Perspektive abzustempeln.