Deglobalisierung, Europa und die NATO, TikTok und der Algorithmus und Prey
Diese Woche in der Grübelkiste: Debatten über Deglobalisierung, eine umfangreiche Analyse von TikTok für Unerfahrene, ein Text zur Zukunft der NATO und 100 Wörter (oder so) über den Film Prey:
Die wirtschaftliche Entflechtung hat einen Preis | Deutschlandfunk Kultur
Um was geht es?
Lieferketten-Schocks in Folge von Corona-Lockdowns, die Folgen einseitiger Energieabhängigkeiten von Autokraten: Die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass Globalisierung als sture Jagd nach den günstigsten Absatzmärkten und preiswertesten Auslagerungsstätten von Arbeitskraft zum gefährlichen Bumerang werden kann. Rufe nach Deglobalisierung sind daher so laut wie lange nicht mehr. In dieser Diskussionsrunde von Deutschlandfunk Kultur wird die Frage debattiert, wie eine solche Entflechtung in der Praxis aussehen sollte.
Was hängen blieb:
Rein ideologiekritisch betrachtet, ist die Debatte interessant, da sich die Haltungen der Gesprächsteilnehmer:innen grob in zwei Lager einteilen lassen: Zum einen wird auf die ökologischen und arbeitsrechtlichen Effekte der bisherigen Globalisierung geblickt und eine stärkere Lokalisierung sowie Autonomie gefordert; zum anderen werden altbackene Frames bedient, die die Abhängigkeit des Fortschritts in ‚Entwicklungsländern‘ von westlichen Exporte hervorheben und die globalisierte Welt als den Kampf um (durch Deglobalisierung gefährdeten) Einfluss beschreiben. Fakt ist, dass der nachhaltigen Diversifizierung unserer Lieferketten bisher die Gier auf die billigsten Handelspartner im Weg stand. Dies zeigt beispielsweise das Versagen beim Bau einer Gaspipeline nach Südeuropa oder der schleichende Aufbau einer einseitigen Abhängigkeit von seltenen Rohstoffen aus China, die für die Verarbeitung von Zukunftstechnologien wie Solar- und Windkraftwerken notwendig sind. Hier zeigt sich, dass Kosten-Nutzen-Rechnungen, die die sozialen und ökologischen Externalitäten ausklammern, nicht den Leitwert des global organisierten Handels bilden können. Vielmehr bedarf es der Abwesenheit von einseitigen Abhängigkeiten und einer möglichst abgesicherten Verfügbarkeit von gesellschaftlich ausgehandelten, zentralen Ressourcen.
Neue Nato, alte Rezepte | Blätter
Um was geht es?
Im Lichte der Trump-Präsidentschaft attestierte der französische Präsident Macron der NATO im Jahr 2019, kurz vor dem Hirntod zu stehen. Doch Putins Angriff auf die Ukraine und die erfolgreiche Selbstverteidigung derselben, sowie der Wahlsieg der US-Demokraten scheint das angestaubte transatlantische Projekt zumindest kurzfristig revitalisiert zu haben. Welche Rolle wird (oder sollte) die NATO in Zukunft spielen? Adam Tooze analysiert in diesem auf Deutsch übersetzten Beitrag für die Blätter die strategische Relevanz des Bündnisses im Kontext der aktuellen globalen geopolitischen Lage.
Was hängen blieb:
Die geopolitischen Einordnungen von Adam Tooze sind immer ihre Lesezeit wert (besonders empfohlen sei hier sein beängstigend regelmäßiger Newsletter). Der Beitrag bietet einen guten Überblick zum komplexen Netzwerk aus russischen, europäischen, chinesischen und US-amerikanischen Interessen. Gerade in Bezug auf die Haltung zu China stellt sich die Frage, welchen Einfluss der jeweils US-amerikanische und europäische Weg auf die transatlantische Beziehung haben wird. Erwähnenswert sind auch Toozes Gedanken zur Rolle einer modernen europäischen Sicherheitspolitik, die sich aus der Demut vor den Erfahrungen des Kontinents speisen sollte, um abseits vom blinden Militarismus eine umfangreiche Strategie der Souveränität zu entwickeln.
TikTok: Life on the Algorithm | Errant Signal
Um was geht es?
Es ist wohl keine Übertreibung, zu behaupten, dass TikTok eine der wichtigsten Plattformen der modernen Netzkultur ist. Doch trotz ihrer Verbreitung, vor allem in jüngeren Generationen, ist die App für viele Leute noch immer ein Buch mit sieben Siegeln. Zusätzlich fiel Entwickler ByteDance schon des Öfteren durch Skandalmeldungen auf, beispielsweise wegen der lange unbemerkten diskriminierenden Moderationspraxis auf der Plattform. Der YouTube-Kanal Errant Signal macht sich in diesem Video zur Aufgabe, die Funktionsweisen und Dynamiken der Plattform in einer kritischen, aber nicht verurteilenden Art und Weise zu beleuchten.
Was hängen blieb:
Das Video funktioniert wahrscheinlich am besten, wenn man (so wie ich) noch keine wirklich intensive praktische Erfahrung mit TikTok als Plattform hatte, aber auch sonst halte ich die Analysen, die im Video vorkommen, für durchaus sehenswert. Es wird detailliert auf die Entstehung der algorithmischen Blasen eingegangen, durch die TikTok seine Benutzer:innen (mal mehr, mal weniger erfolgreich) hindurch lotst. Die besonderen Qualitäten der Plattform für die Bildung einer einzigartigen kreativen Remix-Kultur werden ebenso beschrieben wie die technisch unterstützten Tendenzen zur gegenseitigen Aufstachelung und Entstehung ästhetisierter Mobbing-Kampagnen. Am Ende bleibt für mich ein ambivalentes Gefühl: Auf der einen Seite frage ich mich, wie viel Internet-Zeitgeist mir durch meine Abwesenheit auf der Plattform verloren geht, auf der anderen Seite ist da der unangenehme Beigeschmack eines vollständig maschinellen Content-Apparats, dem ich mich, mehr als auf den meisten anderen Plattform, unterwerfen muss. Am treffendsten beschreibt es der Videomacher an einer Stelle selbst: „Creators no longer create audiences and audiences no longer control what they see”.
100 Wörter (oder so) über: Prey
Ein Geständnis: Ich habe, bis auf einzelne Ausschnitte, noch nie einen Predator-Film gesehen. Ich habe keine Ahnung, mit was für einer Erwartungshaltung man an diese Filme herangehen sollte. Doch Prey interessierte mich irgendwie. Da ist zum einen die weibliche Hauptrolle im Kontrast zum anödenden Machoismus, den ich mit der Reihe sonst verbinde, und natürlich das ausgefallene Setting, das der hochtechnisierten Jägerkultur der Prädatoren eine vermeintlich stark unterlegene entgegenstellt, die im frühen 18. Jahrhundert im Norden Amerikas ihren ganz eigenen Ritualen der Reifeprüfung und Selbstbehauptung anhängt. Prey versucht nicht, mehr zu sein als der Zweikampf, der den Konflikt über genau diese Selbstbehauptung austrägt. Im blinden Wahn der Zerstörung der jeweils größeren Bedrohung geraten alle anderen Motive in den Hintergrund und alle Bedürfnisse des Kollektivs aus dem zum Tunnelblick gewandelten Sichtfeld. Freiheit und Sicherheit, so ließe sich aus Prey nüchtern schlussfolgern, kann es in dieser Welt nur geben, solange man selbst stets als das größte Raubtier von allen hervorgeht.