Ausschluss aus der Wissensgesellschaft – Kritik zu Miranda Frickers „Epistemische Ungerechtigkeit“
Sprechen wir heutzutage von Ungerechtigkeit oder Ungleichheit, so adressieren wir oft altbekannte Kategorien, die in Form von -ismen Gestalt annehmen: Wir kennen die ökonomische Ungerechtigkeit, die sich im Klassismus ausdrückt; geschlechtliche Ungerechtigkeit, die den Sexismus hervorbringt und vom Feminismus bekämpft wird; ethnische Ungerechtigkeit, die sich im Rassismus zeigt; sowie Benachteiligungen, die sich aus Behinderungen (Ableismus) oder dem Alter ergeben (Ageism). Wir können Ungerechtigkeit in lokalen Situationen benennen, wo sie sich aus dem unrechtmäßigen Handeln einzelner Akteure ergibt, wir können aber auch einen großen Maßstab anlegen und globale Ungerechtigkeiten adressieren, beispielsweise wenn wir darüber reden, dass es eine Geburtenlotterie gibt, oder anmerken, dass oft diejenigen Gebiete am stärksten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, die am wenigsten zu diesem beitragen.
Worüber in Bezug auf Ungleichheit allerdings weniger (oder gar nicht) geredet wird, ist die Idee, dass auch das erkenntnistheoretische Verhältnis zu unserer sozialen Umwelt von Ungerechtigkeiten durchzogen ist. Mit dem Begriff der „epistemischen Ungerechtigkeit“ versucht die Philosophin Miranda Fricker, dieser Leerstelle etwas entgegenzusetzen und handelt damit ganz im Sinne der von ihr selbst aufgestellten Theorie – dazu aber später mehr. Unter dem Titel Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens erschien im April 2023 nun die deutsche Fassung ihres 2007 erstmals veröffentlichten Buches Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing.
Ihre Kernthese lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Unser kognitiver Umgang mit Wissen ist seit Anbeginn begleitet von Vorurteilen und Stereotypen, die Einfluss haben auf die Glaubwürdigkeit, die wir den Äußerungen unserer Mitmenschen entgegenbringen, sowie auf die eigenen Möglichkeiten zur verständlichen Mitteilung der eigenen Erfahrungen. Hierbei geht es ihr zentral um jene Fälle von Vorurteilen, die auf Identitätsmerkmalen basieren, die auch auf anderen sozialen Ebenen häufig Grundlage für strukturelle Benachteiligung sind. Diesen verzerrten Bewertung unsererseits steht eine „Tugend-Epistemologie“ entgegen, die eben jene Fragen zum Unrecht von vorurteilsbelasteten Glaubwürdigkeitsurteilen und zu deren möglicher Neutralisierung adressiert. Fricker bedient sich hierbei immer wieder bei zwei konkreten Beispielen: Der unrechtmäßigen Verurteilung des Afroamerikaners Tom Robinson aus dem Roman Wer die Nachtigall stört und der Unrechtbehandlung der Figur Marge durch Herbert Greenleaf in Der talentierte Mr. Ripley. Während ersteres Beispiel einen Fall ethnischer Unterdrückung und dessen Auswirkungen auf die epistemische Unrechtssituation skizziert, behandelt zweiteres eine Situation, die sich auf geschlechtliche Unterdrückung bezieht. Anhand dieser beiden Beispiele beschreibt Fricker den ersten der zwei Fälle von epistemischer Ungerechtigkeit in ihrer Theorie; die Zeugnisungerechtigkeit.
Hierbei geht es primär um den oben bereits erwähnten Begriff der Glaubwürdigkeit und die Verknüpfung dessen mit sozialer Macht, beziehungsweise Identitätsmacht. Auf Basis der kollektiv geteilten Vorstellungen von Begriffen und Bedeutungen im sozialen Gefüge wirkt diese entweder individuell auf Akteursebene oder strukturell (in dem sie etwa das Selbstverständnis von Menschen negativ prägt; Fricker spricht hier beispielhaft von Gruppen, die Wahlen fernbleiben, weil sie sich gemäß dem diskursiv vermittelnden Bild von „Ihresgleichen“ unpolitisch verhalten). Konkret lässt sich die individuell ausgeübte Identitätsmacht am Beispiel von Herberg Greenleaf zeigen: Da er als Mann in einer gesellschaftlichen Atmosphäre lebt (New York der 50er Jahre), die stark männlich dominiert ist und die gewisse Attribute wie rational-deduktives Denken als stark männlich assoziiert, während Eigenschaften wie Emotionalität, Irrationalität und Hysterie als weiblich konnotiert angesehen werden, ignoriert Greenleaf die nützlichen Hinweise von Marge zum unaufgeklärten Mord seines eigenen Sohnes mit den abweisenden Worten: „Marge, es gibt weibliche Intuition, und es gibt Fakten“.
Wichtig ist Fricker, dabei festzuhalten, dass die stereotypen Bilder, die wir kollektiv teilen und die unsere Wahrnehmung anderer verzerren, nicht gleichzusetzen sind mit unseren Überzeugungen. Tatsächlich ist es für sie genau dieses Spannungsfeld zwischen etablierten Überzeugungen und der prä-reflexiven Wahrnehmung von Mitmenschen, das uns ermöglicht, korrigierend in unsere Glaubwürdigkeitsurteile einzugreifen. So können wir beispielsweise überzeugte Feministin sein, aber in unserer Wahrnehmung die Wirkmacht antifeministischer stereotyper Bilder feststellen (und korrigieren), oder wir können trotz wirkmächtiger Vorurteile (hervorgerufen etwa durch eine rassistische Sozialisierung) in Situationen geraten, in denen eine unvoreingenommene Wahrnehmung des Gegenübers bei uns einsetzt, die wiederum unsere Überzeugungen in ein neues selbstkritisches Licht rückt.
Interessant ist hierbei, dass Fricker epistemische Ungerechtigkeit auch in Hinblick auf eine historische Dimension bewertet und dadurch zu einem überraschenden Ergebnis kommt: Die Schuldhaftigkeit, die sich aus der ethischen Komponente der verursachten Zeugnisungerechtigkeit ergibt, ist nicht immer eindeutig zuschreibbar. Dies erklärt sich durch die historische Färbung der sozial geteilten Bilder über Identitäten und Stereotypen und deren Wirkmacht in gewissen raum-zeitlichen Atmosphären.
Dass Herbert Greenleaf (in seiner Wahrheitssuche nach dem echten Mörder) die Äußerungen von Marge abwertet und als emotional abstempelt, ist für Fricker ein Fall von „historischem Pech“; Greenleaf handelt in einer Weise, die „routinemäßig“ den Diskursen seiner Zeit gerecht wird und ist dadurch nicht schuldig. Gleichwohl ergeben sich in jeder gegebenen Zeit auch sogenannte „außergewöhnliche“ diskursive Züge, die es selbst einem Greenleaf der 1950er Jahre erlaubt hätten, zu einem vorurteilsfreieren Urteil zu kommen. Für Fricker handelt es sich daher um Urteile, die zwar Formen einer gerechtfertigten moralischen Enttäuschung darstellen können, aber keine direkte Schuldzuweisung zulassen. Anders sieht es im Fall von Tom Robinsons unrechtmäßiger Verurteilung in Wer die Nachtigall stört aus: Die Geschworenen sind zwar in ihrer spontanen Wahrnehmung sowie in der reflexiven Auseinandersetzung mit ihren Vorurteilen ebenfalls einem historischen Bias ausgesetzt, jedoch ist ihr Urteil den vorliegenden entlastenden Beweisen und Zeugenaussagen von sowohl weißen als auch nicht-weißen Beteiligten nicht gerecht geworden, wodurch ihnen eine schwerwiegende Schuld auf mehreren Ebenen anzulasten ist (moralisch, epistemisch, juristisch).
Wie sich vielleicht bereits erahnen lässt, widmet sich ein Großteil des Buches der Bestimmung der Tugend, die für Zeugnisungerechtigkeit, beziehungsweise Zeugnisgerechtigkeit (als korrigierend eingreifendes Moment) verantwortlich ist. Dabei bestimmt Fricker die Zeugnisgerechtigkeit als sowohl intellektuell als auch moralisch motivierte Tugend, die bereits im hypothetischen Naturzustand neben der Aufrichtigkeit und Genauigkeit als dritte notwendige Tugend für eine Gesellschaft, die auf Wissenszusammentragung angewiesen ist, zum Vorschein kommt. Diese Tugend beschreibt sie als erlernte und prozesshaft ausbaubare spontane Sensibilität für die Dissonanzen und Widersprüche, die sich zwischen unseren Wahrnehmungen und Überzeugungen einstellen, und die von unserem reflexiven Bewusstsein ergänzt werden. Da wir alle durch unsere spezifische Sozialisierung mit unterschiedlichen Anfälligkeiten und Resistenzen gegenüber bestimmten prägenden Diskursen und Vorurteilen ausgestattet sind, ist gerade der Austausch zwischen unterschiedlichen Erfahrungswelten ein relevanter Impuls für die Reflexion eigener Denk- und Wahrnehmungsmuster.
Neben der Zeugnisungerechtigkeit, die einen Großteil des Buches einnimmt, beschreibt Fricker noch eine zweite Form von epistemischer Ungerechtigkeit: Die hermeneutische Ungerechtigkeit. Während erstere vor allem bei den Hörenden und deren korrigierendem Handeln zu verorten ist, verweist letztere auf einen asymmetrischen Mangel an Ressourcen auf Seiten der Sprechenden, der dazu führt, dass Erfahrungen nicht akkurat vermittelt werden können. Anders als beim individuellen schuldhaften Handeln der Zeugnisungerechtigkeit wirkt die hermeneutische Ungerechtigkeit rein systemisch und verweist auf die Marginalisierung der weniger Mächtigen im sozialen Raum (Fricker verwendet für eine solche hermeneutische Leerstelle das Bild des Ozonlochs; wer unter diesem lebe, erleide Verbrennungen, die anderswo nicht im gleichen Maße erlebt wird).
Ein Beispiel, das die Autorin nennt, ist die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, die von den Ausübenden diskursiv als „harmloses Flirten“ rechtfertigt wird, während es Opfern, aufgrund der Identitätsvorurteile, die ihnen entgegengebracht werden, häufig an einer eigenen Sprache und den notwendigen Interpretationsmustern mangelt, um die Unrechtmäßigkeit der eigenen Erfahrung treffend zu beschreiben. Hier erklärt sich auch die Anmerkung, die ich im ersten Abschnitt zu Frickers Projekt gemacht habe; der Versuch, auf eine „Leerstelle der Leerstellen“ im sozialen Kollektivbewusstsein aufmerksam zu machen, könnte ironischerweise selbst schon als eine Praxis der hermeneutischen „Korrektur“ gedeutet werden.
Ähnlich wie bei der Zeugnisungerechtigkeit, die in der Zeugnisgerechtigkeit eine korrigierende Tugend findet, ist auch die hermeneutische Ungerechtigkeit von einem tugendhaften Gegenstück begleitet: Ein reflexives Bewusstsein für die objektive Schwierigkeit des hermeneutisch marginalisierten (und durch strukturelle Identitätsvorurteile markierten) Gesprächspartners, sich nachvollziehbar zu artikulieren, soll hierbei dem eigenen verzerrten Glaubwürdigkeitsurteil entgegenwirken.
Nun mag man sich nach all diesen komplexen Ausführungen berechtigterweise folgende Frage stellen: Warum das Ganze? Wofür braucht es eine solche Theorie und Praxis, zusätzlich zu unseren bestehenden Kategorien der sozialen Ungleichheit? Um diese Frage zu adressieren, lohnt es sich abschließend noch einen Blick auf den Schaden zu werfen, der durch epistemische Ungerechtigkeit bei den Opfern erzeugt wird. Fricker unterscheidet dabei zwischen primären und sekundären Schäden. Der primäre Schaden der Zeugnisungerechtigkeit besteht in erster Linie aus einer zutiefst grundlegenden Verletzung und Entehrung des Subjekts in dessen Rolle als Teil der Wissensgesellschaft – weiter oben habe ich bereits angedeutet, wie entscheidend es sowohl für das Selbstverständnis als auch für die soziale Teilhabe ist, als vollwertiges, vernunftbegabtes Mitglied einer Gesellschaft angesehen zu werden, die auf Wissenssammlung angewiesen ist. Der strukturelle Ausschluss aus dieser, aufgrund von stereotypen Identitätsmerkmalen, führt im schlimmsten Fall zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, indem sich Menschen ihren eigenen Stereotypen gemäß anpassen, und ihnen der Mut und die Selbstüberzeugung fehlt, sich diesen vorgeformten Bildern entgegenzustellen (ein interessantes Beispiel wären hierfür Studien, die ermittelt haben, dass Frauen beim Lösen von Rätseln zum räumlichen Denken schlechter abschneiden, wenn man sie zu Beginn an ihr Frausein erinnert; ab Minute 25:55). Dieser Effekt beschreibt bereits einen sekundären Schaden; ein Subjekt, dass sich selbst als wissend verstehen muss, um als vollständig zu gelten, verliert irgendwann tatsächlich das eigene Wissen, wenn die Ressourcen zur intellektuellen Selbstbemächtigung fehlen oder extrinsische Auswirkungen dazu führen, dass bestimmte Rollen im gesellschaftlichen Leben aufgrund der Wirkmacht von existierenden Identitätsvorurteilen nachhaltig unerreichbar bleiben.
Die Verselbstständigung dieser Tendenzen findet schließlich Einzug in das, was Fricker als „präemptive Zeugnisungerechtigkeit“ bezeichnet: Soziale Gruppen, die unter Identitätsvorurteilen leiden, sind hierbei ganz und gar aus dem Kreis derjenigen ausgeschlossen, deren Gedanken, Urteile und Meinungen man allgemein einholen würde; die Subjekthaftigkeit wird ihnen und ihren potentiellen Bekundungen damit nachhaltig aberkannt. Analog dazu beschreibt Frick, wie hermeneutische Ungerechtigkeit den Glauben an die Welt und ihre sinnvolle Deutung erschüttert und daraus Folgeschäden entstehen können, die ebenfalls langfristig der eigenen Entwicklung im Weg stehen. Die autoritativen, beziehungsweise vorgeschriebenen Deutungsmuster der eigenen Erfahrung (Fricker spricht hier beispielhaft über die Selbstwahrnehmung von Homosexualität in einem queerfeindlichen Umfeld) geraten in eine schmerzhafte Dissonanz mit dem eigenen Empfinden – ein Weg zur Rebellion liegt hier ganz stark im Austausch mit anderen, die ähnliche Dissonanzen durchlebt haben, sowie im konkreten politischen Handeln und der Herbeiführung gesellschaftlichen Wandels.
Frickers Buch ist mitunter, trotz der anschaulichen Beispiele, harte Kost und erfordert ein gewisses Eindenken in ein zugegebenermaßen „unsichtbares“ Problemfeld der sozialen Ungleichheit. Nichtsdestotrotz empfand ich das Buch als eine sehr lohnende Lektüre; die Bemerkungen über die Reflexivität der eigenen Identitätsmacht öffnet beispielsweise Türen zu anderen kritischen reflektiven Theorien wie der „Critical Whiteness“-Forschung, während die Anerkennung zum Stellenwert des Austausches über erlebte Dissonanzen von Menschen, die unterschiedlichsten Vorurteilen und Unterdrückungsverhältnissen ausgesetzt sind, immer wieder starke Anknüpfbarkeiten zur intersektionalen Praxis aufzeigt. Eine Frage, die sich mir abschließend stellte, betraf die oben erwähnte Schuldlosigkeit durch die historisch gefärbten kollektiven Bilder und Stereotype, die „routinemäßiges“ diskursives Handeln begünstigten und „außergewöhnliches“ Handeln als bewundernswerte Ausnahme klassifizieren:
Auch wenn Frickers Begründung intuitiv nachvollziehbar ist, bleibt für mich offen, inwiefern historischer und gesellschaftlicher Wandel hierbei zu verorten ist; gibt es keinen Imperativ, der in gewisser Weise zum außergewöhnlichen Urteilen verpflichtet? Lassen sich die historischen Verfehlungen nicht auch in Schuld- und Verantwortungskategorien denken, oder ist man dazu verdammt, auf „außergewöhnliche“ Subjekte zu warten, auf deren Schultern die Bürde des sozialen Wandels, hin zu einer gerechteren epistemischen Welt lastet? Das sind interessante Fragen, wie sie nur ein interessantes Buch mit einem unkonventionellen Denkansatz aufwerfen kann. Gerade in einer Zeit, in der die Suche nach einer neuen sensiblen Sprache und die Attestierung von Unvoreingenommenheit in Bezug auf Opferaussagen eine zunehmend wichtige Rolle im Kampf gegen Unterdrückung spielen, erscheint Frickers Buch relevanter und lesenswerter denn je.