Alltag und Vernichtung – Kritik zu Jonathan Glazers The Zone of Interest
„Hörst du das?“, fragt Rudolf Höß während einer Szene im Film The Zone of Interest seinen Sohn, als die beiden an einem sonnigen Tag durch die anliegenden Wälder des Konzentrationslagers Auschwitz reiten. Gemeint sind von Höß nicht die Schreie, nicht die Schüsse, nicht das allgemeine Rumoren einer industriellen Tötungsmaschinerie, die unmittelbar neben dem Grundstück der arischen Bilderbuchfamilie auf Hochtouren läuft. Nein, der Kommandant des Konzentrationslagers ist lediglich neugierig, ob sein Sohn das Singen der Rohrdommel erkennt; ein Geräusch, das wiederum für den Zuschauenden inmitten einer omnipräsenten Klangkulisse des Leids kaum wahrnehmbar sein dürfte.
Zehn Jahre ist es her, seitdem Regisseur Jonathan Glazer mit Under the Skin seinen letzten Spielfilm in die Kinos brachte; einen Zeitraum, den er mit ausgiebiger Recherchearbeit und einer originalgetreuen Nachbildung des historischen Höß-Anwesens füllte, während Tontechniker Johnnie Burn für Glazer eine ausgiebige Bibliothek mit historisch akkurat kartografierten Klängen anfertigte, die entsprechend zum Ort und Zeitpunkt ihres Geschehens sowie ihrer Distanz zur aufgezeichneten Szene eingebaut wurden.
The Zone of Interest ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Film. Rein produktionell, aber auch als künstlerisches Werk zum schlimmsten Verbrechen der Menschheit, sowie in der außergewöhnlichen Wirkung, die er bei den Zusehenden hinterlässt. Produktionell lässt sich etwa festhalten, dass er nicht nur ein Film ist, sondern im Grunde zwei: Der eine findet im Anwesen der Höß und dessen näheren Umgebung statt und wurde aufgezeichnet von teils versteckten, teils sichtbaren Kameras, die vor Drehbeginn am Set installiert wurden und der Crew erlaubten, das Schauspiel von Sandra Hüller (Hedwig Höß), Christian Friedel (Rudolf Höß) und Co. aus der Distanz zu beobachten.
Der beiläufige Naturalismus, den der Film vermittelt, tritt damit umso klarer in den Vordergrund, Stimmen verhallen und Szenen überlagen sich mitunter im allgemeinen Getummel. Als „Big Brother im Nazi-Haus“ bezeichnete Glazer selbst seine Form der Inszenierung – familiäre Nähe trifft auf distanzierte Betrachtung, die Zuschauenden werden zu zeitweiligen Beiwohnenden des Geschehens, treten ein in eine Welt des Grauens, in der sich Vater, Mutter und Kinder längst akklimatisiert haben. Radikale Verdrängung und eine rein pragmatische Integration der Vernichtung und ihrer Überbleibsel in den eigenen Alltag werden zu den zentralen Instrumenten in der Vermeidung von kognitiven Dissonanzen.
Die Erfahrung dieser Dissonanzen zeigt sich (abseits eigener Reaktionen von Ekel und Abscheu) in der Figur der Mutter von Hedwig Höß, die ihren Besuch der Familie eines Nachts heimlich abbricht und damit zeigt, dass das Fallenlassen in eine vollständige, perfekte Illusion kein Automatismus ist. Nur einen Brief lässt die Mutter Hedwig zurück, der diese sichtlich in Rage versetzt und augenblicklich im Kamin des Hauses verbrannt wird. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, bleibt nur die endgültige Tilgung aus der Welt jedes einzelnen Hinweises zur Reflektion des eigenen Lebens.
Als allgegenwärtig und unentrinnbar erscheint der erlebte Ekel im Film durch die oben bereits erwähnte Klangkulisse von Johnnie Burn. Da sich die Bilder des Films auf das Familienleben beschränken, findet die Inszenierung des Horrors von Auschwitz rein auf der auditiven Ebene statt. Auch hier ist es die wahrgenommene Beiläufigkeit der eingestreuten Sounds, durch die ein historischer Kosmos gezeichnet wird, der über die 106 Minuten Film von The Zone of Interest hinausragt.
In einer Diskussionsrunde des Deutschlandfunks sprach der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger über das ‘Bildarchiv’ aus dokumentarischen und cineastischen Eindrücken zur Shoah, dass das erinnerungskulturell geschulte Publikum mit in den Film bringt. Die Überlegung, wie der Film wohl auf all jene wirkt, die nicht auf ein solches Bildarchiv zugreifen können, wirft viele weitere spannende Fragen auf, etwa bezüglich der Einbettung eines Films wie The Zone of Interest in didaktische Kontexte sowie zur Aussagekraft von ästhetischen Empfindungen und Affekten für eine ganzheitliche Vermittlung von Geschichte.
Die Ausblendung eines universalistischen affektiven Zugangs zur Welt, die selektive Verschließung vor unmittelbarem Leid, wird von den Hauptfiguren erkauft durch ein beinahe vollständiges Aufgehen in instrumenteller Vernunft. Hedwig sieht den Pelzmantel einer getöteten Jüdin als nichts Weiteres als ein Objekt, das für ihre eigene Anwendung Reinigung und Reparatur bedarf; Rudolf ist vom bürokratischen und arithmetischen Charakter der jüdischen Vernichtung derart eingenommen, dass er während einer ausschweifenden Party der nationalsozialistischen Schreibtischtäter an nichts Anderes denken kann als daran, welche Planung es bräuchte, um die anwesende Feiergemeinschaft mit Gas zu töten.
Doch trotz dieser manischen und perfektionierten Distanz zum martialischen Geschehen gibt es Brüche im scheinbar makellosen Alltag. Hedwig gerät durch den Weggang ihrer Mutter aus der Fassung und kompensiert ihren Moment der Schwäche mit einer Machtdemonstration gegenüber ihrem Hausmädchen, indem sie ihr mitteilt, dass auch ihre Asche im Handumdrehen über die Felder wehen könnte. Rudolf Höß wiederum erlebt nach dem Festakt einen kurzen Moment des körperlichen Ekels, der an Joshua Oppenheimers The Act of Killing erinnern lässt.
Höß Blick schweift anschließend beinahe gedankenverloren einen langen Gang entlang. In der bemerkenswerten Szene, die auf diesen Moment folgt, wird die erzählerische Raumzeit auf beeindruckende Weise gedehnt, und so wie die Soundkulisse den historischen Rahmen des Films in seiner Gänze erscheinen lässt, so wird hier die Shoah als Ereignis inszeniert, das die instrumentelle faschistische Gegenwart der Nazis übersteigt und zwischen Vergangenheit und Zukunft, Tat und Vermächtnis oszilliert – womöglich ein kurzer Moment der Kontemplation seitens Höß. Doch kaum da, wird er schon unterbrochen von der Rückbesinnung auf die Routine, die Rückkehr zur Familie, die Rückkehr nach Auschwitz. Die Arbeit ruft.